Der erste Krampfanfall

Dieses erste Kapitel habe ich als Einziges erst vor wenigen Tagen geschrieben -und nicht wie die anderen Texte relativ kurzfristig nach den jeweiligen Ereignissen. Er ist so sachlich wie möglich formuliert, eine gewisse Emotionalität lässt sich allerdings nicht vermeiden, da dieses Kapitel den bisher schlimmsten Tag meines/ unseres Lebens betrifft.-

Annis erster Krampfanfall war so traumatisch, dass ich auch jetzt, über ein halbes Jahr danach noch Probleme habe, daran zurückzudenken ohne in Tränen auszubrechen. Das Schlimmste war einfach -im Nachhinein betrachtet- dass wir nicht wussten, was da passiert war. Und das Zweitschlimmste war, dass wir in einem Krankenhaus entbunden hatten, in dem es keine Kinderklinik und somit auch keinen einzigen verflixten Kinderarzt gab.

Aber ich fange vorne an:

Es war der dritte Tag nach der Entbindung und unsere Entlassung für den nächsten Tag war bereits beschlossene Sache. Wir hatten eben die U2 hinter uns, zu der ein externer Pädiater ins Krankenhaus gekommen war. Er hat Anni untersucht und war absolut zufrieden mit ihr. Alles schien normal zu sein.*

Mein Freund war mit Anni kurz auf den Flur gegangen, weil ich mich von der Physiotherapeutin durchs Zimmer scheuchen lassen musste (Ich hatte einen Kaiserschnitt und konnte anfangs ziemlich schlecht laufen). Wir hatten abgemacht, dass mein Freund die Viertelstunde, die für die Physio anberaumt war, einfach ein bisschen mit der Kleinen spazieren gehen sollte.

Nachdem die Therapeutin gegangen war, kam er bestimmt zehn Minuten lang nicht zurück. Ich wollte gerade aufstehen und nach den beiden sehen, als eine der Krankenschwestern hereinkam und mich fragte: „Sie haben es schon mitgekriegt, oder?“

Ich war in dem Moment ja völlig ahnungslos und dachte, es ginge vielleicht um die Entlassung und wollte mich schon aufregen. Ich wollte unbedingt am nächsten Tag die Klinik mit meiner Tochter verlassen. Also habe ich nur irgendetwas gesagt wie „Nein, was?“ oder so ähnlich.

Und dann meinte die Schwester, ja, der Kleinen ginge es gerade nicht so gut und ob ich denn aufstehen könnte, um mitzukommen. Da fährt einem der Schreck natürlich direkt in die Glieder und ich bin aufgesprungen und hinter ihr her. Ich kann mich nicht erinnern, was wir auf dem Weg zum Arztzimmer gesprochen haben oder ob überhaupt etwas gesagt wurde.

Ich weiß nur, ich kam in dieses Zimmer, in dem keine halbe Stunde zuvor die U2 stattgefunden hatte und sah meinen Freund tränenüberströmt und schluchzend vor der Unersuchungsliege stehen, die Händchen unserer Tochter umfassend und weinend auf sie einsprechend.

Sie lag nur da, weiß wie eine Wand, mit geschlossenen Augen und völlig regungslos.

Ich bin wirklich zu Tode erschrocken, das Gefühl und die Gedanken, die in dem Moment durch meinen Kopf geschossen sind, kann ich überhaupt nicht wiedergeben.

Ich weiß nur, dass ich immer wieder gefragt habe, was denn los sei und mein Freund vor Tränen überhaupt nichts erklären konnte. Kein Arzt war im Zimmer, die Schwester war auch verschwunden. Das Ganze ging wahrscheinlich keine zehn Sekunden, aber mir kam es vor, als wären wir ewig allein gewesen.

Irgendwann kamen endlich zwei Ärzte -Frauenärzte wohlgemerkt- herein und zwei Schwestern, die Anni an das Pulsoximeter gehängt haben. Mittlerweile hatte ich gesehen, dass Anni schwach, aber immerhin merklich atmete.

Aber als die Maschine angeschlossen war, begann diese sofort unheilverkündend zu piepen. Die Sauerstoffsättigung ging in den Keller. (Dass das die Sättigung war, weiß ich heute. Damals dachte ich, ihr Herz hört auf zu schlagen oder sonst etwas Furchtbares).

Mein Freund und ich waren völlig hysterisch und ich weiß noch dass die Ärztin sagte, wir sollen keine Panik haben, das Gerät sei kaputt. Also wurde das Nächste gebracht. Bei diesem war die Anzeige die Gleiche, die Sättigung ging runter und der Alarm piepte immer schneller. Von wegen das erste Gerät war kaputt! Ich gerate heute noch innerlich in totalen Aufruhr wenn ich daran denke… Die Sauerstoffsättigung war so miserabel in dem Moment, dass alle dachten, es kann nur am defekten Gerät liegen… Verrückt.

Das Furchtbare war, dass man jetzt plötzlich merkte, wie die Ärzte selber in Panik gerieten.

Der Eine lief hinaus, die Andere befühlte immer mal wieder Annis Brust und schaute dann wieder total überfordert auf die Anzeige des Pulsoximeters. Dann verließ auch sie das Zimmer und es wirkte, als wüsste sie einfach nicht, was zu tun sei.

Wir waren allein und keiner half uns in diesem Moment. Ich habe nur gehört, dass zwei Krankenschwestern bereits den Kindernotarzt riefen.

Das Gefühl, dass mein Kind starb und keiner etwas tat, hat mich in völliger Hysterie mit beiden Fäusten an die Glasscheibe des Untersuchungszimmers, das zur Anmeldung hinausging, trommeln lassen wie eine Verrückte.

Daraufhin kam eine der Ärztinnen endlich wieder zurück. Der Alarm am Pulsoximeter schrillte immer weiter und die Werte fielen so weit ab, dass einfach nur noch eine Linie erschien. Da ich in diesem Moment ja keine Ahnung hatte, was das Ganze zu bedeuten hatte, war ich überzeugt, sie habe einen Herzstillstand. Ich weiß, dass ich immer wieder „Nein, nein, nein!“ gekreischt habe, während mein Freund wie apathisch auf einem der Stühle im Zimmer hockte und nicht mehr wusste, wohin mit sich.

Ich denke heute, es muss wie in einem Film gewirkt haben. Nur war es kein Film, sondern verdammt real. Ich erinnere mich, dass die Ärztin zu mir rüber kam und sagte: „Hören Sie, Ihr Kind ist vital nicht in Gefahr.“

Das war der einzige Satz. Ich konnte in dem Moment aber nichts aufnehmen, ich habe nur so intensiv wie ich noch nie zuvor ein Gefühl empfunden habe, gespürt, dass ich nie, nie wieder glücklich werden würde.

Ich dachte, meine kleine Tochter sei tot.

Daran kann ich mich noch erinnern und an alles, was dann passierte, nur noch sehr vage und bruchstückhaft. Ich weiß nicht, wann der Alarm ausging und die Sättigungsanzeige wieder nach oben, ich kann nicht sagen, wie lang es ging, bis die Kindernotärztin auftauchte oder was sie zu uns gesagt oder getan hat. Das ist alles ziemlich verschwommen.

Anni wurde in einen kleinen Plexiglaskasten gelegt, den die Sanitäter auf einem fahrbaren Gestell herangeschoben hatten. Und dann wurde sie in die Uniklinik gebracht.

Es folgten Diskussionen über meine Entlassung, die an diesem Tag nicht genehmigt werden konnte, Telefonate mit der Uniklinik, ob diese mich bis zum nächsten Tag aufnehmen konnten und und und. Organisatorischer Kram, der einen schier zermürbt, wenn man gerade erlebt hat, was wir erlebt hatten. Nach ein paar Minuten war wenigstens geklärt, dass ich in die Uni verlegt werden konnte, wir haben den nötigsten Kram im Zimmer aus den Schränken gerissen (ich erinnere mich, dass mein Freund geistesgegenwärtig noch das Namens-Schildchen, auf dem Größe, Gewicht und genauer Geburtszeitpunkt stehen, vom Beistellbettchen abgerissen hat, was mich heute ziemlich amüsiert, weil ich weiß, dass er das nur gemacht hat, weil ich es unbedingt aufheben wollte), sind -so schnell ich mit meiner frischen Narbe konnte- zum Auto gerannt und losgefahren.

Als wir dann endlich zu unserer Tochter durften, lag sie mit mehreren Zugängen, an das Pulsoximeter angeschlossen und einer EEG-Haube mit unzähligen Kabeln in einem der kleinen gläsernen Bettchen auf der Intensivstation in der Uniklinik. Es sah schrecklich aus, so ein winziges Menschlein an all diesen Geräten und zwischen piepsenden Monitoren…

Und trotz all der Angst und dem Schrecken, der einem in den Knochen saß, hatte man zumindest das Gefühl, sie sei hier sicher betreut. Erst nachdem wir dort ankamen, wurde mir ja überhaupt genauer erzählt was vorgefallen war. Dass sie plötzlich in den Armen meines Freundes begonnen hatte, sich komplett zu versteifen und blau angelaufen war. Dass ihre Atmung ausgesetzt hatte und sie nach dem Krampfen völlig in sich zusammengefallen war.

Mein Freund hatte mir auf dem Weg zur Uniklinik zwar auch erzählt, was passiert war, aber ich habe das alles nicht richtig einordnen können.

Wir konnten zu diesem Zeitpunkt auch noch nichts damit anfangen und das Wort „Epilepsie“ oder generell „Krampfanfall“ fiel noch gar nicht.

In den nächsten Tagen wurden verschiedenste Tests und Untersuchungen gemacht und nachdem nochmal zwei Krampfanfälle** in der ersten Nacht und am zweiten Tag auf der Intensivstation auftraten, die ich dann auch gesehen hatte, wurde mit der Phenobarbital-Therapie begonnen. Daraufhin sind dann erstmal keine weiteren Krämpfe aufgetreten.

 

 

*Natürlich lasten wir dem Kinderarzt nichts an. Tatsächlich hätte niemand vorhersagen können, dass ein Anfall, wie er einige Minuten nach der Untersuchung auftrat, jemals passieren würde.

** Wie sich die Krampfanfälle bei unserer Tochter genau äußern, ist im Kapitel „Wie laufen Annis Krampfanfälle ab?“ beschrieben.

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